Demokratie ist nicht nur, was die Politik tut
Um zu wissen, wie die Bevölkerung denkt und warum sie so denkt, wie sie denkt, braucht es verschiedene Formen des Hinhörens. Umfragen sind eine Methode, eine andere bilden Interviews. Das Austrian Democracy Lab hat es sich zur Aufgabe gemacht, über Storytelling-Gespräche mehr über das Demokratieverständnis und die Demokratiezufriedenheit der Bürger*innen zu erfahren.
Interviews mit Politiker*innen sind selbstverständlich. Man findet sie in jeder Nachrichtensendung, jeder Tageszeitung, jedem Politikmagazin. Für Politiker*innen sind solche Gespräche ein wesentliches Mittel, um ihre Botschaften zur Bevölkerung zu bringen. Die Medien sind diesbezüglich Überbringer*innen aber auch Vergleichende, Kritiker*innen sowie Aufdecker*innen von jenen Dingen, über die nicht so gerne gesprochen wird. Für die Bevölkerung wiederum ist es eine Möglichkeit, mehr zu erfahren. Wie aber ist es umgekehrt?
Auch die Bevölkerung kommt selbstverständlich zu Wort; einerseits durch Wahlen und direktdemokratische Werkzeuge, andererseits über Befragungen. Längst ist es selbstverständlich geworden, dass man von Umfrageinstituten angerufen und nach seiner Meinung gefragt wird, gleichgültig ob zu einem Produkt oder zur politischen Einstellung. Was die Umfragen so gut miteinander vergleichbar macht, sowohl über verschiedene Regionen und Länder als auch über mehrere Zeitreihen hinweg, sorgt für wissenschaftliche Kongruenz und für das Vertrauen in die Ergebnisse. Gleichzeitig liegt genau in dieser Vergleichbarkeit auch ein Haken: Ein Großteil der Fragen muss vorformuliert sein, um die angesprochene Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Häufig jedoch entsteht auch die Frage: Warum stimmt jemand einer Aussage zu oder eben nicht?
Storytelling-Gespräche sind unhierarchisch
Das Austrian Democracy Lab beschäftigt sich sehr intensiv mit diesem Zwiespalt. Seit Beginn seiner Tätigkeit wird halbjährlich das Demokratieradar als große Bevölkerungsumfrage (je ca. 4.500 Teilnehmer*innen online und per Telefon) durchgeführt. Mittlerweile gibt es sieben Wellen, die achte ist für den Herbst 2021 bereits in Vorbereitung. Parallel dazu – und immer wieder in Kombination – werden Interviews mit der Bevölkerung geführt. Die Methode kommt aus der Tradition der Oral History-Gespräche. Es handelt sich um Storytelling-Interviews, die den Gesprächspartner*innen so viel Freiheit wie möglich geben sollen. Durch ihre selbstgewählten Formulierungen und die Entscheidung über den Gesprächsfluss bestimmen die Interviewpartner*innen weitgehend die Themen und den Verlauf der Gespräche. Somit stellen Storytelling-Interviews eine partizipative Methode dar. Genau das macht sie nicht nur in der qualitativen Forschung, sondern auch als Hintergrund oder Ausgangspunkt für quantitative Analysen wertvoll.
Eine zusätzliche Qualität solcher Gespräche ist die Aufhebung jener Hierarchie, die sich zuweilen im wissenschaftlichen Arbeiten zwischen der/dem Expert*in und dem sogenannten „wissenschaftlichen Objekt“ ergibt. In der Oral History-Methode spielt es keine Rolle, wie historisch/sozial/politisch bedeutsam ein Leben erscheinen mag. Jede Meinung, jede Erfahrung ist wertvoll. Es geht um das Erfassen von Erinnertem, Gedachtem und Erlebtem. In diesem Sinne bemüht sich die Auswertung der Storytelling-Gespräche, die aktuellen Lebensumstände, die erzählten oder gestisch gezeigten Reaktionen sowie die nebenbei gegebenen Informationen mitzudenken. Das eröffnet nicht nur für den/die Forscher*in Möglichkeiten, Neues zu entdecken, sondern führt auch bei den Gesprächspartner*innen zur Möglichkeit, sich der Zusammenhänge bewusst zu werden oder sich bisher Ungefragtes selbst zu beantworten.
Zuhören und genau hinhören
Wie bei Oral History-Interviews wird beim Storytelling kein Fragenkatalog abgearbeitet, sondern entlang von Großthemen gesprochen, beim ADL etwa zum Vertrauen in die Demokratie als politischem System oder zu Situationen des täglichen Lebens, die von demokratischen Prozessen beeinflusst werden. Anhand dessen werden Menschen in Österreich in den Mittelpunkt der Forschung gestellt. Die Diversität der Befragten reicht von der Studentin bis zum Pensionisten, von der ehemaligen NR-Abgeordneten über die Künstlerin bis zum Bio-Bauern, vom NGO-Mitarbeiter bis zur Unternehmerin. Absichtlich geht es um Einzelstimmen, konkrete Erinnerungen und persönliche Verbindungen mit dem Thema Demokratie. Das bedeutet auch, sehr persönliche, zuweilen emotionale Bindung zu Demokratie zu beleuchten.
Grundvoraussetzung dafür ist zunächst das bedingungslose aktive Zuhören der Interviewenden. Denn jeder Alltag hat etwas zu erzählen, das wesentlich ist – auch zu Politik. Als Gesprächspartner*in muss man dafür weder vordergründig politisch interessiert sein, noch Politikwissenschaft studiert haben. Interessant wird es immer dann, wenn ein/e GesprächspartnerIn aus sich heraus erzählt, im Erzählen reflektiert und sich einer Einstellung oder Erfahrung bewusst wird. Storytelling-Gespräche wollen einladen zum Weiterdenken zu Demokratie, Zudem soll den Gesprächspartner*innen vor Augen geführt werden, dass ihre Meinungen eine Rolle spielen, weit über den Moment des Interviews hinaus.
Das ADL sucht dafür immer wieder Gesprächspartner*innen … Wir freuen uns über Freiwillige, die sich melden.