Pressefreiheit: Ein wunder Punkt, über den Europa nicht gerne spricht
In der von Reporter ohne Grenzen im Juli 2021 veröffentlichten Liste von Regierenden, unter deren Herrschaft Journalist*innen eingeschränkt, inhaftiert oder ermordet werden, befindet sich erstmals ein Ministerpräsident eines EU-Staates. Die Empörung lässt bis heute auf sich warten.
Die Meinungs- und die Pressefreiheit gehören zu den ersten Rechten, die in Krisensituationen eingeschränkt werden – meist unter dem Vorwand von Sicherheitspolitik. Das könnte man als Allgemeinwissen abhaken, doch die Bedeutung der Aussage wird nicht weniger erschreckend, nur weil sie vielen Menschen bewusst ist. Die Frage ist vielmehr, warum so wenig dagegen unternommen wird. In einer Krisensituation scheinen andere Probleme vordringlich. Die Meinungs- und Pressefreiheit sollten daher frühzeitig verteidigt werden. Ihr Fehlen fällt nämlich meist erst dann auf, wenn es zu spät ist, um sich noch zu wehren.
Immer wieder wird daher versucht, mit Ranglisten und Statistiken mahnend darauf aufmerksam zu machen, dass Pressefreiheit auch im 21. Jahrhundert mehr Utopie als Selbstverständlichkeit bedeutet, nicht zuletzt in Europa. Die NGO Reporter ohne Grenzen (ROG, *1985) veröffentlicht jährlich eine der bekanntesten Ranglisten zu diesem Thema und führt mit ihrer ständig aktualisierten Liste an inhaftierten und getöteten Medienleuten drastisch vor Augen, wie fragil dieses Menschenrecht ist. Zwar wird an der Rangliste von ROG ebenso viel kritisiert wie an den Rankings, die Freedom House jährlich erstellt, doch ist auch klar, „[b]eide Rankings ermöglichen kontinuierlich eine international vergleichende Einschätzung und liefern somit verlässliche Hinweise, wo und wie die Medienfreiheit gefährdet ist.“
Die Feinde der Pressefreiheit
Weniger bekannt ist die Liste der „predators of press freedom“, eine Aufzählung jener Regierenden weltweit, unter deren Herrschaft Medienvertreter*innen besonders stark in ihrer Arbeit behindert, zensiert, eingesperrt, gefoltert und ermordet werden. Im Juli 2021 veröffentlichte ROG die neue Liste. Es gab kaum ein Echo in den Medien oder von Seiten der Politik, obwohl einiges daran auffällig ist. So musste die Liste gegenüber ihrem letzten Erscheinen im Jahr 2016 stark erweitert. 17 der 37 erwähnten Regierungschefs sind neu auf der Liste, was nichts Gutes für die Zukunft des freien Wortes bedeuten dürfte, wenn neu gewählte (oder anders an die Macht gekommene) Personen keine Achtung vor dem Menschenrecht der Meinungsfreiheit haben. Es sind zudem erstmals weibliche Regierende darunter, etwa – enig verwunderlich – Carrie Lam aus Hong Kong sowie die Premierministerin Bangladeschs, Sheikh Hasina, deren Gesetz zur digitalen Sicherheit allein zwischen 2018 und 2020 zur gerichtlichen Verfolgung von mehr als 70 Journalist*innen geführt hat.
Während manche Herrscher seit mehr als 20 Jahren auf der Liste stehen, wie der syrische Machthaber Bashar al-Assad sowie der russische Präsident Vladimir Putin und Alexander Lukaschenko aus Weißrussland, findet sich nun erstmals ein EU-Staatschef in dieser Gesellschaft wieder: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Lutz Kinkel vom European Centre for Press and Media Freedom formuliert dazu: „De facto ist es so, dass die autokratisch orientierten Staaten alle Versuche, den europäischen Werten Geltung zu verschaffen, schlichtweg ignorieren oder ausbremsen.“.
Nicht nur Regierende schränken die Arbeit der Medien ein
Europa schweigt nicht ganz. Vielmehr wird durchaus über den Niedergang der Pressefreiheit lamentiert, doch außer dem Europäischen Parlament, das auf strengere Kontrolle und Bestrafung von Staaten drängt, die die Pressefreiheit missachten, wird das Thema kaum öffentlich diskutiert und somit zuwenig ins Bewusstsein gerückt. Lange Zeit schien die Demokratie in der Europäischen Union ebenso wenig gefährdet wie das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung. Über Selbstverständliches muss kaum nachgedacht werden. Doch seit einigen Jahren gibt es eine erschreckende Tendenz, die zum Nachdenken anregen müsste: Journalist*innen werden in ihrer Arbeit behindert, zunächst von neuen Gesetzen und in Wortmeldungen von Regierenden, in zunehmendem Maße aber auch von Bürger*innen. Die Liste der Feinde der Pressefreiheit, wie sie von ROG veröffentlicht wird, zeigt wie eine Warnung nur die deutlichsten Vergehen.